Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 26


Gunnar verspürte kein gehobenes Bedürfnis, erneut zur Metrowacht zu eilen, aber sein Pflichtbewusstsein machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Kofa hatte Recht gehabt. Morgen konnte es zu spät sein.
Allerdings befand er sich nur noch wenige Schritte von seinem Zuhause und einer Mahlzeit entfernt, weswegen er sich den Luxus einer kleinen Pause gönnte. Seine Mutter war sichtlich erleichtert, als er eintraf, hatte sie bisher doch nur einige vage Sätze von Tiscio auf ihre vielen Fragen zur Antwort bekommen.
Jener wiederum hatte endlich seine Schuhe von seinen Füßen gepult und versuchte es sich in den Decken gemütlich zu machen, die ihm die Mutter seines Freundes gegeben hatte, als Gunnar in die Werkstatt trat.
"Die Darndianer waren wieder da", begann der Erfinder ohne eine Begrüßung, was Tis jedoch über das Gesagte völlig überhörte. Der Wortschwall, der auf diese Einleitung folgte, teilte ihm alles Nötige mit, ließen ihm aber keine Gelegenheit, eigene Fragen zu stellen. Erst als Gunnar seinen Bericht beendet hatte, gelang es ihm, die Frage zu stellen, die ihn lange am Einschlafen gehindert hätte.
"Hast du Malandro gefunden?"
Gunnar benötigte einen Moment, um in seinem Kopf umzuschalten.
"Äh, ja. Er ist bei Unterschnitt. Leicht verletzt und stinkwütend."
"Warum wütend?" fragte Tiscio. Und als Gunnars Worte einsickerten, fügte er hinzu: "Warum verletzt?"
"Der Automat, der, der uns verfolgt hat, hat ihn erwischt und aufgeschlitzt. Jetzt will er Herrn Gwylain verklagen. Aber das ist jetzt überhaupt nicht wichtig."
"Für mich schon."
"Ja, gut, aber ihm geht's gut und es sieht so aus, als wenn die Diebe und damit vermutlich auch die Mörder entkommen werden, wenn wir nichts tun."
"Wieso?"
"Hast du nicht zugehört?"
"Doch, aber was hat das damit zu tun, dass die Diebe entkommen?"
"Tiscio, denk doch nach!"
"Getze mach mal nich' den Piesepampel und erklär mir's halt."
"Aber ich habe es doch eben alles erklärt: die Darndianer haben die Oravahler beobachtet, wie sie die Bücher gestohlen haben. Die Oravahler haben sich eine Passage auf einem Luftschiff für morgen Früh gemietet. Viel mehr braucht man doch nicht zu sagen."
"Du meinst, dass die fliehen wollen?"
"Nicht nur ich."
"Dann müssen wir sie aufhalten!"
"Sehr gut, Tiscio", Gunnar atmete erleichtert, darüber, dass er es nicht noch einmal erklären musste, aus. "Man merkt doch, dass du zur Schule gegangen bist."
"Hej, du Nutnase. Kann ja nicht jeder so'n Fragebast sein, wie du."
"Ich weiß nicht mal, was ein Fragebast ist."
"Und ich werd's dir auch nicht sagen."
"Können wir vielleicht wieder zum Thema kommen?"
"Was wir jetzt anstellten?"
"Genau das."
"Ich würde sagen, dass wir so bald wie möglich der Metrowacht Bescheid sagen."
"Und was sollen wir denen erzählen?"
"Na, dass der Dieb entkommt, auf'n Luftschiff."
"Und woher wissen wir das?"
"Von den Darn ... banniger Kallermatsch! Du hast Recht."
"Ich weiß."
"Vielleicht ... ich meine, viele meiner Kollegen haben ihre Informanten, die sie nicht preisgeben."
"Aber ich bin fünfzehn und du bist Anwärter. Meinst du, so etwas werden sie einfach so glauben?"
"Mir vielleicht nicht, aber Kargerheim."
"Das ist gar keine schlechte Idee."
"Doch isses."
"Warum?"
"Weil wir dann schon wieder los müssen."
"Dann zieh dir mal die Schuhe an."

Sie betraten das kleine Reihenhaus mit Tiscios Schlüssel. Es war spät und Frau Kargerheim ging gerne früh zu Bett, wobei ihr Mann sie für gewöhnlich begleitete. Auch an diesem Abend war das Haus bereits dunkel und Tiscio nahm sich die Kerzenlampe, entzündete sie mit einem Span aus der Glut in der Küche und stieg die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, so leise wie es ihm möglich war. Er schämte sich ein wenig, weil er seine Schuhe nicht ausgezogen hatte, aber in Anbetracht dessen, dass sie gleich weiter wollten, war er sich nicht sicher, ob er sie noch einmal ausgezogen bekommen würde.
Die Reaktion auf sein Klopfen ließ eine Weile auf sich warten, bis schließlich Kargerheim an der Tür erschien, sein teilweise angezogene Tageskleidung durch einen Hausmantel vervollständigt.
"Tiscio? Das ist selbst für dich eine ungewöhnliche Zeit."
"Entschuldigen sie, Herr Kargerheim. Aber wir brauchen ihre Hilfe. Es ist wirklich dringend."
"So dringend, dass es nicht bis morgen Früh warten kann?"
"Nein, morgen Früh ist es zu spät."
"Das hört sich ja an, als wenn es um Leben und Tod ginge."
"Nicht direkt, aber der Mörder könnte entkommen."
Kargerheim blickte seinem Protegé lange ins Gesicht, um zu sehen, ob er dort irgendeinen Anflug von Schalk oder Unvernunft erkennen konnte. Das einzige, was er jedoch sah, waren Müdigkeit und eine Dringlichkeit, die es lange nicht mehr in dieser Form gezeigt hatte.
Er winkte Tiscio die Treppe hinunter und schloss leise die Tür hinter sich, bevor er seine beiden Gäste in die kleine Stube führte, wo noch ein Rest des Feuers im Kamin glimmte.
Normalerweise hätte er sich in seinem Sessel niedergelassen, aber die Dringlichkeit, die von den beiden jungen Männern ausging, veranlasste ihn dazu, ebenfalls stehen zu bleiben.
"Also gut. Ich merke, wie aufgebracht ihr seid. Und du, Tiscio, hast etwas von einem Mörder gesagt. Hat es mit dem Mord an diesem Professor zu tun, den ihr aufzuklären versucht?"
"Ja, Herr Kargerheim. Und wir haben jetzt einen Hinweis erhalten." Er blickte zu Gunnar hinüber, der für ihn einsprang.
"Neulich sind zwei Darndianer bei mir zuhause Eingedrungen und haben meine Mutter bedroht. Aber eigentlich wollten sie mit mir über den Mord sprechen. Und vorhin haben sie mich auf dem Rückweg abgefangen. Sie haben mich gefragt, was heute in der Metrowacht gestohlen wurde ..."
"Die Metrowacht wurde bestohlen?"
"Ja, Herr Kargerheim. Aus der Asservaten Kammer. Die Bücher, die bei Professor Ulfhaus, das ist der ermordete Professor, beschlagnahmt wurden."
"Wie konnten sie ..." Ihr Gastgeber war sichtlich aufgebracht, beruhigte sich jedoch mit einer sichtlichen Willensanstrengung. "Nein, dass könnt ihr mir später erzählen, nicht wahr? Jetzt ist etwas Anderes wichtig."
"Ja, das stimmt. Wir müssen die Diebe nämlich aufhalten, bevor sie entkommen."
"Jetzt sind wir ein wenig zu weit vorgeprescht. Könntet ihr mir bitte erst noch erzählen, was es mit diesen Darndianer auf sich hat?"
"Die haben mir als Gegenleistung für meine Information gesagt, dass sie die Oravahler beschatten und gesehen haben, wie sie den Einbruch verübt haben. Außerdem haben sie sich Fahrkarten für ein Luftschiff gekauft."
"Die Darndianer beobachten die Oravahler? Ich fürchte, ich habe eine Ahnung, was das bedeutet, aber könntest du mir bitte genau sagen, warum die Darndianer die Oravahler beobachten?"
"Weil sie verfeindet sind", war es diesmal an Gunnar, die Frage nicht so zu verstehen, wie sei gemeint war.
"Gehören sie vielleicht irgendwelchen Organisationen an?"
"Oh ja, dem Roten Edikt und der Lapisis Via."
Kargerheim ließ ein leises Ächzen hören und rieb sich den Rücken seiner Nase. "Das ist tatsächlich zu wichtig. Damit müssen wir sofort zur Metrowacht gehen."
"Das wollen wir ja auch."
"Aber ich will nicht meine Informationsquelle preisgeben."
"Ein berechtigter Einwand. Dann bleibt uns nur eins zu tun. Ich muss meine Frau wecken."
Damit ließ er seine beiden ungeduldigen Gäste in der Stube zurück und ging zurück ins Schlafzimmer. Wenig später kam Frau Kargerheim mit der Schlafhaube auf dem Kopf und eingewickelt in ihren Hausmantel hinunter und begrüßte die Jungen, müde, aber wie immer herzlich. Sie bot ihnen sogar etwas kühlen Panas an, der ihnen ein wenig ihrer Kraft zurückgab, was hoffen ließ, wenigstens den Weg zur Metrowacht noch schaffen zu können.
Gerade als sie ihre Tassen absetzten, kam auch der ehemalige Berti zurück, mit seinem Sakko über dem Arm, und ließ sich von seiner Frau beim Anlegen des Dampfarms helfen. Sie hielt ihm auch noch das Sakko und seinen Mantel hin. Anschließend reichte sie ihm seinen Hut und Gehstock, nachdem er sich selbst eine kleine Armbrust in den Mantel gesteckt hatte. Als letztes drückte sie ihm eine Stulle in die Hand und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn, was die beiden Jungs beschämt fortblicken sah.
"Sei vorsichtig, Herlin."
Kargerheim lächelte sie nur liebevoll an und drückte ihre Hand, bevor sie das Haus verließen.

Die Jungen aus der Feldstrasse